Mythos Völkerrecht: Fassade des Imperialismus

Beim Ukraine-Krieg griffen die westlichen Staaten sofort auf das Völkerrecht zurück und verurteilten den russischen Angriff als völkerrechtswidrig. Binnen weniger Tage stimmten über 140 Staaten in der UN-Generalversammlung einer Resolution zu, die Russland als Aggressor brandmarkte. Russland wurde weltweit isoliert, sanktioniert und politisch geächtet.

Ganz anders sieht es im Gazastreifen aus: Seit fast drei Jahren begeht Israel einen Genozid am palästinensischen Volk. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben Kriegsverbrechen und völkerrechtswidriges Handeln Israels dokumentiert. Doch von den Staaten, die sonst so gerne das Völkerrecht beschwören, ist kaum ein Aufschrei zu hören. Im Gegenteil: Israel wird weiterhin mit Waffen beliefert, diplomatisch gedeckt und politisch unterstützt.

Warum dieser Unterschied? Warum wird im einen Fall das Völkerrecht als moralischer Hammer geschwungen, während es im anderen Fall verstummt? Um diese Doppelmoral zu verstehen, müssen wir die eigentliche Funktion des Völkerrechts analysieren.

Verrechtlichung des Imperialismus

Die Konkurrenz zwischen Staaten ist kein Nebenaspekt, sondern das zentrale Prinzip des internationalen Systems. Jeder Staat verfolgt seine Macht- und Interessenpolitik – ökonomisch, diplomatisch und militärisch. Diese Gegensätze lassen sich nicht auflösen, sie prallen strukturell aufeinander.

Hier tritt das Völkerrecht auf den Spielplan: Es liefert den Staaten Verfahren, Regeln und Institutionen, um ihre Konflikte in rechtliche Formen zu überführen und einen Rahmen zu schaffen, in dem Außenpolitik betrieben werden kann.

Die Verrechtlichung dieser Konkurrenz bedeutet nicht ihre Eindämmung, sondern ihre Organisation. Abkommen, Konventionen und Institutionen wie die UNO legen fest, wann Gewalt „rechtmäßig“ oder „völkerrechtswidrig“ ist, wann Kriege „Selbstverteidigung“ oder „Angriff” sind, zwischenstaatliche Verträge gekündigt werden dürfen und unter welchen Bedingungen Sanktionen zulässig sind. Gewalt wird also nicht abgeschafft, sondern ihre Anwendung wird in geregelte Bahnen gelenkt. Das Völkerrecht schafft einen gemeinsamen Maßstab – nicht um Frieden herzustellen, sondern um die Austragung von Machtkonflikten zu kodifizieren.

Im imperialistischen System erhält diese Rechtsform eine besonders strategische Funktion. Die großen Mächte, die über entscheidende militärische, ökonomische und politische Mittel verfügen, prägen das Völkerrecht zu ihren Gunsten. Sie präsentieren eigene Gewaltakte als rechtmäßig – gestützt auf Konsens, Mandat oder Selbstverteidigung – und brandmarken die Gewalt anderer Staaten als unrechtmäßig. Die institutionalisierte Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt wird so zu einem zentralen Werkzeug imperialistischer Herrschaft.

Die Verrechtlichung der Konkurrenz ist daher keine Zivilisierung internationaler Politik, sondern ihre ideologische und institutionelle Absicherung. Politische Gegensätze werden in Rechtsprobleme übersetzt, während ihr materieller Kern – die Durchsetzung von Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen – unangetastet bleibt. Für die betroffenen Völker bedeutet dies, dass ihre Lebensverhältnisse zum Material dieser Konkurrenz werden und die Gewalt über ihr Territorium und Leben den Anschein von Rechtsförmigkeit erhält.

Die Instrumentalisierung des Völkerrechts ist systembedingt

Das Völkerrecht basiert auf der formalen Anerkennung der Souveränität aller Staaten. Es erkennt die unterschiedlichen Interessen der Staaten an – gleichzeitig sind diese Staaten die Hauptakteure und Richter dieses Systems. Da es keine neutrale, übergeordnete Gewalt gibt, die Verstöße objektiv sanktioniert, fungieren die Staaten sowohl als Spieler als auch als Schiedsrichter. Sie berufen sich auf das Völkerrecht, wenn es ihren Interessen dient, und ignorieren es, wenn es ihnen im Weg steht.

Formal sind alle Staaten im Völkerrecht gleich. In der Praxis jedoch spiegeln sich Machtverhältnisse in der Anwendung wider: Mächtige Staaten wie die USA, Russland oder China können internationale Urteile oft ignorieren oder umgehen, während kleinere oder international isolierte Staaten stark an die Regeln gebunden sind und bei Verstößen mit Sanktionen oder politischem Druck rechnen müssen.

Internationale Institutionen wie die UNO, der Internationale Gerichtshof (IGH) oder die WTO können Staaten nicht zwangsweise dazu bringen, sich an das Völkerrecht zu halten. Sie wirken hauptsächlich politisch oder symbolisch, während die tatsächliche Durchsetzung von den mächtigen Staaten abhängt.

Auf diese Weise wird das Völkerrecht zu einem Instrument, das Macht, politische Agenda und geopolitische Interessen widerspiegelt, statt universelle Gerechtigkeit zu gewährleisten. Die Doppelmoral im Umgang mit Russland einerseits und Israel andererseits ist kein Zufall – sie ist systemimmanent.

Das Völkerrecht unterscheidet nicht zwischen Gewalt und Nicht-Gewalt, sondern zwischen legitimer und nicht legitimer Gewalt

Ein aktuelles Beispiel ist Israel: Zahlreiche Völkerrechtler haben klar dokumentiert, dass Israel das Völkerrecht im Gazastreifen systematisch verletzt. Dennoch reagieren viele Staaten kaum oder gar nicht. Der Grund liegt in geopolitischen Interessen: Israel ist ein zentraler Verbündeter des US-Imperialismus und ein wichtiger strategischer Partner der europäischen Mächte.

Die Gewalt, die von Israel ausgeht, dient der Durchsetzung eines ethnonationalen Staatsprogramms, das auf jüdische Dominanz über das beanspruchte Territorium abzielt – notfalls durch Vertreibung, Aushungerung oder Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung.

Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt diese Politik aus klar staatsrationalen Gründen: Israel ist ein strategisch wichtiger Partner in einer Region von globalem geopolitischen Gewicht, gleichzeitig eine prosperierende kapitalistische Nation, eng verflochten mit dem westlichen Wirtschaftsraum und insbesondere den USA. Die deutsch-israelische Beziehung basiert somit auf gemeinsamen imperialistischen Interessen – Zugang zu Märkten, Sicherung von Einflusszonen und ein militärischer Stützpunkt im Nahen Osten.

Innerhalb dieser Logik ist die systematische Vernichtung palästinensischen Lebens kein moralisches Problem, sondern ein kalkulierter Preis für stabile politische Beziehungen. Menschlichkeit findet hier keinen Platz; Grausamkeit, Apathie und ideologische Rechtfertigungen werden zu zentralen Werkzeugen politischer Herrschaft.

Das Völkerrecht ist kein neutrales Weltgesetz, sondern ein Machtinstrument der Mächtigen

Im öffentlichen Diskurs erscheint das Völkerrecht oft wie ein verbindliches Gesetz, das für alle Staaten gleichermaßen gilt. Doch ein globales Rechtssystem funktioniert nur mit einer übergeordneten Instanz, die Verstöße neutral sanktioniert – eine solche Instanz existiert nicht. In der Realität interpretieren die mächtigsten Staaten das Völkerrecht nach ihren eigenen Interessen.

Vor allem die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – verfügen über das Vetorecht und können so entscheiden, was als völkerrechtskonform gilt und was nicht. Staaten, die eng mit diesen Mächten verflochten sind, wie Deutschland, unterstützen und verstärken diese Deutung.

Das zeigt sich deutlich am Beispiel Russland: Obwohl Moskau im Sicherheitsrat sitzt und jede bindende Resolution blockieren könnte, wurde der Angriff auf die Ukraine international schnell als völkerrechtswidrig verurteilt. Möglich wurde dies, weil westliche Staaten die UN-Generalversammlung anriefen, in der es kein Veto gibt. Über 140 Staaten stimmten für eine Resolution, die Russland als Aggressor brandmarkte. Die Resolution ist rechtlich nicht bindend, entfaltet aber enorme politische Wirkung: Russland wurde isoliert, sanktioniert und geächtet – alles im Namen des Völkerrechts.

Dieses System funktioniert stets gleich: Politische Gegner werden als Aggressoren deklariert, eigene militärische Interventionen erscheinen fast immer als Selbstverteidigung oder humanitäre Maßnahmen. Für Staaten außerhalb dieser Machtordnung gibt es kaum Hoffnung auf eine gerechte Anwendung des Völkerrechts. Ob ein Staat als Täter oder Opfer gilt, hängt weniger vom tatsächlichen Verhalten ab, als davon, ob er Freund oder Feind der Mächtigen ist.

Fazit Bezug zum Völkerrecht

Ein Bezug auf das Völkerrecht und die Forderung nach seiner Einhaltung haben eine klare Bedeutung.

Erstens sind sie Ausdruck politischer Ohnmacht: Man appelliert an Staaten, ihre eigenen Maßstäbe der Gewaltanwendung konsequenter durchzusetzen. Damit übernimmt man jedoch die Kriterien der Herrschenden und läuft Gefahr, nicht mehr den Inhalt – Gewalt und Imperialismus selbst – zu kritisieren, sondern lediglich deren angeblich „falsche“ oder „illegitime“ Anwendung.

Zweitens bleibt die Durchsetzung des Völkerrechts immer Sache der Staaten selbst, die zugleich Akteure, Schiedsrichter und Vollstrecker sind. Ein solches System kann gar keine neutrale Instanz hervorbringen, sondern institutionalisiert nur den Gewaltgebrauch zwischen Staaten.

Drittens stiftet die Berufung auf das Völkerrecht die Illusion, ein friedliches Miteinander der Nationen wäre möglich, wenn die Regeln nur konsequenter beachtet würden. In Wahrheit ist das ausgeschlossen, weil das Völkerrecht gerade die Konkurrenz, Gegensätze und Gewaltförmigkeit des internationalen Systems organisiert und legitimiert. Frieden im Sinne von Überwindung der Gewaltbeziehungen liegt außerhalb seiner Reichweite.

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